Donnerstag, 3. Februar 2011

Haircut gefällig?

Die Verschuldungskrise einiger Euro-Staaten ist in einem kritischen Stadium angelangt. Nach der faktischen Zahlungsunfähigkeit von Griechenland, Irland und Portugal ist es sehr zweifelhaft, ob die spanische Regierung ihre Staatsanleihen verzinsen und tilgen kann. Bei anderen EU-Staaten sieht es ähnlich schlecht aus. In dieser Situation hat die FDP-Bundestagsfraktion bei Hans-Werner Sinn und Kai Carstensen vom ifo Institut für Wirtschaftsforschung ein Gutachten über die Bewältigung der staatlichen Finanzprobleme bestellt, das seit dem 23. November 2010 unter dem Namen Ein Krisenmechanismus für die Eurozone vorliegt. Die Grafik, Tabelle und Zitate in diesem Artikel stammen aus dem Gutachten.

Die folgende Grafik zeigt die Forderungen ausländischer Banken gegenüber den Staaten Griechenland, Irland, Portugal und Spanien (GIPS):



Die offen erklärte Zahlungsunfähigkeit allein schon der GIPS-Staaten würde das französische, aber auch das deutsche Bankensystem, mit in den Abgrund reißen. Um das zu verhindern, wurde von den EU-Staaten in großer Eile ein finanzieller Rettungsschirm aufgespannt, der für Deutschland eine Haftung aus Bürgschaften in Höhe von 215 Milliarden Euro mit sich bringt:



Erläuterungen zu den einzelnen Zeilen der Tabelle:

  1. EFSF = European Financial Stability Facility. Ad hoc gegründete Zweckgesellschaft in Luxemburg, die außerhalb des Regelwerks der EU Kredite bis zu 440 Milliarden Euro an zahlungsunfähige Euro-Staaten gewährt, wovon Deutschland bis zu 147,4 Milliarden Euro absichert. Voraussetzung der Gewährung ist die einstimmige Feststellung der drohenden Zahlungsunfähigkeit durch die kreditgebenden Länder und den IWF. Bis zum 30. Juni 2013 begrenzt, danach keine neuen Gewährleistungen der Sicherungsgeber.

  2. EFSM = European Financial Stability Mechanism. Die EU-Kommission gewährt unter Berufung auf Artikel 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) direkt Kredite bis zu 60 Milliarden Euro an Euro-Staaten, die ihre Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen können. Da der Artikel 122 AEUV nur eine Hilfsermächtigung bei Naturkatastrophen vorsieht, beruht der EFSM auf einer sehr eigenwilligen Interpretation des EU-Rechts. Der deutsche Haftungsanteil errechnet sich aus dem Beitrag Deutschlands zu den gesamten Eigenmitteln des EU-Budgets von 2009.

  3. IWF = Internationaler Währungsfonds (International Monetary Fund). Der IWF hat zugesagt, parallel zu EFSM und EFSF insgesamt 250 Milliarden Euro zu gewähren. Daran ist Deutschland mit seinem IWF-Finanzierungsanteil von 6% beteiligt.

  4. Die schon teilweise ausgezahlten EU-Kredite an Griechenland in Höhe von 80 Milliarden Euro werden von Deutschland im Verhältnis seines EZB-Kapitalanteils von 28% getragen.

  5. Die parallel zu 4. gewährte IWF-Hilfe für Griechenland belastet Deutschland wieder im Verhältnis seines Kapitalanteils von 6% am IWF.

  6. EZB = Europäische Zentralbank. Die EZB hat allein im Zeitraum von Mai 2010 bis November 2010 Staatsanleihen, noch dazu solche mit einem schlechten Rating, in Höhe von 63 Milliarden Euro gekauft. Diese Staatspapierkäufe durch die EZB sind faktisch ein weiterer Rettungsschirm, der dem EFSM und EFSF sehr ähnlich ist. Die EZB hat beim Erwerb der Staatspapiere sogar ihre bis dahin gültigen Bonitätskriterien für Wertpapierpensionsgeschäfte aufgegeben. Sie betreibt heute eine Politik, die dem Artikel 125 AEUV, nach dem ein EU-Land nicht für die Schulden eines anderen haftet, widerspricht. Falls die erworbenen Staatspapiere von den Schuldnerstaaten nicht ordnungsgemäß verzinst und getilgt werden, müßte die EZB Abschreibungen vornehmen, die zu Verlusten bei ihren Anteilseignern führen. Deutschland wäre daran zu 28% beteiligt.



Die Finanzkrise der GIPS-Staaten hat ihre Ursache in Regierungsversagen. Vor Einführung des Euro lagen die Zinsen für ihre zehnjährige Staatsanleihen im gewogenen Durchschnitt um 5 Prozentpunkte über dem deutschen Zins, weil die Währungen dieser Staaten ständig an Wert einbüßten und die Käufer ihrer Staatsanleihen deshalb einen Risikoaufschlag für die Möglichkeit einer Abwertung der jeweiligen Währung verlangten. Ab 1996, als der Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU die Erwartung entstehen ließ, dass der Euro kommen und das Wechselkursrisiko verschwinden würde, glichen sich die Zinsen in der künftigen Euro-Zone an, und zwar auf dem niedrigen deutschen Niveau. Von 1999, der virtuellen Einführung des Euro, bis zum Herbst des Jahres 2008, als nach dem Konkurs von Lehman Brothers Zweifel an der Zahlungsfähigkeit der GIPS-Staaten aufkamen, betrug der Zinsunterschied ihrer Staatsanleihen zu den deutschen Schuldtiteln durchschnittlich nur etwa 0,4 Prozentpunkte.

Die Einführung des Euro bewirkte für Länder wie Griechenland, Spanien und Portugal eine dramatische Zinssenkung. Diese Staaten hätten die Möglichkeit gehabt, ihre Schulden wegen der niedrigeren Zinsen und des sich daraus ergebenden Wirtschaftsbooms zurückzuzahlen. Stattdessen haben sie noch mehr Kredite aufgenommen, als sie schon hatten.

Irland, Griechenland, Spanien und in begrenztem Umfang auch Portugal wurden zu Kapitalimportländer, während Deutschland zu einem Kapitalexportland wurde. Im Zeitraum von 2002 bis 2009 hat Deutschland zwei Drittel seiner gesamtwirtschaftlichen Ersparnisse als Kapital- und Geldabfluss an das Ausland verloren, und nur ein Drittel dieser Ersparnisse wurden im Inland investiert. Von den deutschen Kapital- und Geldabflüssen waren nur ein Sechstel Nettodirektinvestitionen, während fünf Sechstel auf Finanzkapitalexporte entfielen, z. B. für strukturierte US-amerikanische Wertpapiere (Asset-Backed Securities), Kredite für spanische Immobiliengesellschaften, oder griechische Staatsanleihen.

Dieser massive Kapitalimport brachte den GIPS-Staaten einen starken Wirtschaftsaufschwung. "Während Deutschlands Wirtschaft in der Zeitspanne von 1995 bis 2009 gerade mal um 16% wuchs und der Durchschnitt der alten EU-Länder bei 27% lag, wuchs Irland um 105%, Griechenland um 56% und Spanien um 50%. Portugal schaffte es mit 30% immerhin, den Durchschnitt zu übertrumpfen." Bei diesen guten Wirtschaftsdaten wäre es durchaus möglich gewesen, die Staatshaushalte in GIPS zu sanieren. Wenn nicht unter diesen Umständen, wann dann?

Bei den deutschen Finanzkapitalexporten ist auch Unternehmerversagen in den großen Banken festzustellen, die bisher ein Viertel ihres Eigenkapitals durch Abschreibungen auf uneinbringliche Asset-Backed Securities verloren haben. Der entsprechende Verlust der französischen Banken beträgt nur ein Zehntel ihres Eigenkapitals. Andererseits ist das französische Bankensystem stärker von der GIPS-Finanzkrise betroffen, denn es hielt vor den Rettungsaktionen einen um 55% größeren Bestand an Staatspapieren der GIPS-Länder als Deutschland. Die Großbanken haben sich durch ihre bedenkenlose Kreditvergabe an die Staaten vollständig von ihnen abhängig gemacht. Andererseits kann der Wohlfahrtsstaat nur aufrecht erhalten werden, wenn weiterhin privates Kapital in riesigen Mengen den Staaten zufließt, ohne dass eine Rückzahlung jemals erfolgt.

Es kommt also darauf an, bei den privaten Kapitalgebern die Illusion aufrecht zu erhalten, dass Kredite an den Staat im Grunde rentabel seien, ohne eine echte Konsolidierung der Staatsfinanzen vorzunehmen. Diese würde es erfordern, den EU-Staaten jegliche Kreditaufnahme zu verbieten und dieses Verbot in den unabänderlichen Teil der jeweiligen Verfassungen aufzunehmen. Davon ist im Gutachten nicht die Rede. Statt dessen wird im Fall der Zahlungsunfähigkeit eines Euro-Staates eine Teilenteignung der Gläubiger gefordert, die zynischerweise im gesamten Text des Gutachtens als "Haircut" bezeichnet wird.

"Die Höhe des Haircut richtet sich nach dem durchschnittlichen Marktwertabschlag der letzten drei Monate vor Beginn der Verhandlungen mit den Gläubigern. Er soll allerdings mindestens 20% betragen. Eine Mindestgrenze ist erforderlich, um die Möglichkeiten für strategische Maßnahmen zur Marktwertmanipulation seitens großer Kreditgeber zu begrenzen. Der höchstmögliche Haircut ist 50% des Nennwertes bzw. des vertraglich vereinbarten Rückzahlungsbetrags der Anleihe. Die Höchstgrenze soll sicherstellen, dass der Markt eine Kalkulationsbasis erhält und Panik vermieden wird."


Das Drehbuch einer künftigen staatlichen Zahlungsunfähigkeit sieht danach so aus, dass der Gläubiger auf seine Forderung: "I want my money back" die Antwort erhält: "You need a haircut". Wieviele Investoren wollen vom Staat einen Irokesenschnitt bekommen? Die Autoren des Gutachtens glauben, mit ihrem Frisurvorschlag den sozialstaatlichen Pelz waschen zu können, ohne ihn nass zu machen.

"Der notwendige Kompromiss zwischen den Zielen der langfristigen politischen Stabilität Europas und der kurzfristigen Stabilität der Finanzmärkte kann weder in einem Verzicht auf Rettungsmaßnahmen noch in einer Vollkaskoversicherung gegen Zahlungsunfähigkeit ohne Selbstbehalt liegen. Der Haircut von 50% und die partielle Sicherung der Ersatzanleihen in Höhe von 80% könnten einen sinnvollen Kompromiss zwischen den beiden divergierenden Zielen bieten."

Nachdem der staatliche Friseur so viel wildwucherndes Haar, das den Kopf der Investoren nur verunziert, beschnitten hat, stellt sich die Frage, wie die Banken diese Verluste ausgleichen sollen, ohne zusammenzubrechen. Für die Gutachter ist die Lösung einfach: die Kapitalisten haben genug Geld, um diese Rückschläge wegzustecken.

"Im Übrigen ist es erforderlich, ein von den Banken selbst finanziertes Rettungssystem auf nationaler Ebene zu errichten, das einer bedrängten Bank im Krisenfall mit Eigenkapitalzuschüssen gegen Aktien zu Hilfe kommt. ... Um zu erreichen, dass das Eigenkapital einer Bank tatsächlich haften kann, ohne dass die Bank geschlossen werden muss, ist es zwingend erforderlich, dass Verluste, die das Eigenkapital unter die aufsichtsrechtliche Schranke drücken, mit neuem, von außen kommendem Eigenkapital aufgefüllt werden. Ein Bankenrettungssystem, das die Banken, nicht aber deren Anteilseigner rettet, würde das Bankensystem besser gegen Staatsinsolvenzen schützen."


Investoren müssen sich dessen bewußt sein, dass der Staat kein Schuldner wie jeder andere ist, denn er kann die Regeln bestimmen, nach denen zu handeln ist. Außerdem bestimmt er die Interpretation dieser Regeln. Viele Marktbeobachter waren schockiert, als die EZB ab Mai 2010 begann, in großem Stil Staatsanleihen zu kaufen, die sonst unverkäuflich gewesen wären. Dieses Verhalten widerspricht dem Artikel 123 (1) AEUV. Die Gutachter weisen zu Recht auf ein weit verbreitetes Mißverständnis hin.

"Die Formulierung [des Artikels 123 (1) AEUV] macht klar, dass die EZB den Staaten keine direkten Kredite geben darf und auch nicht direkt aus ihrer Hand Staatspapiere erwerben darf. Sie wirkt auf den Laien wie eine Generalklausel, die den Missbrauch in Form einer Finanzierung des Staatsbudgets durch die Notenpresse ausschließt. Käufe auf dem Sekundärmarkt schließt sie hingegen nicht aus. Dass Griechenland seine Staatsanleihen auf dem Umweg über seine Banken an die Zentralbank verkauft hat, war erlaubt, weil es nicht verboten war."

Offenbar darf man nicht erwarten, dass Politiker und Spitzenbeamte sich an den Geist eines Gesetzes halten, wenn dessen Buchstaben Schlupflöcher offen lassen. Können diese jemals ganz geschlossen werden? Wieviele Politiker wissen wirklich, was die Gesetzestexte bedeuten, die sie durchwinken? Wo sind die Journalisten, die kritisch darüber berichten? Die Kapitalgeber sollten lernen, dass kein Staat die Bonität und Solvenz hat, die ihm von interessierter Seite zugeschrieben werden.

"Dreiundsiebzig Mal hat die Neuverschuldung der Länder Europas [der EU] die 3%-Grenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts überschritten. In 27 Fällen war dies nach der Rezessionsregel, wie sie ursprünglich im Pakt vorgesehen war, erlaubt. In den meisten Fällen hätten Strafen gezahlt werden müssen. Tatsächlich aber wurde keine einzige Strafe verhängt."

Das bedeutet, dass die EU-Staaten 46 mal das selbst gegebene Recht gebrochen haben, ohne dass es dafür einen Kläger, einen Richter oder eine Strafe gab. Ein privater Schuldner mit einer derartig rechtsbrecherischen Vergangenheit würde als absolut kreditunwürdig eingestuft werden. Es gibt keinen Grund, warum mit Staaten anders verfahren werden sollte.

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