Im Strafgesetzbuch (StGB) lautet § 253 (Erpressung), Absatz 1:
"Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."Jeder Streik erfüllt diesen Tatbestand. Die Streikführer können sich nur durchsetzen, wenn sie genau das tun, was der § 253 StGB verbietet. Sogar der gewerkschaftsnahe Otto Rudolf Kissel, Präsident des Bundesarbeitsgerichts von 1981 bis 1994, schreibt in seinem Standardwerk
Arbeitskampfrecht, dass jedem Juristen beim Streik der Gedanke an den Straftatbestand der Erpressung (§ 253 StGB) kommt, der es unter Strafe stellt, wenn jemand mit Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel einen anderen zu einer Handlung nötigt, die den Genötigten schädigt, um sich zu bereichern (München 2002, § 34, Randnummer 21).
Otto Kissel begründet dies zutreffend so:
"Denn es ist in unserer Rechtsordnung ungewöhnlich, dass durch die Verweigerung der Erfüllung einer bestehenden Verpflichtung gezielt Druck auf den Vertragsgegner ausgeübt wird, was für diesen in aller Regel mit erheblichen Schäden verbunden ist und oft auch für unbeteiligte Dritte, nicht immer unbeabsichtigt. Dieser Druck ist das ... Mittel, den Vertragsgegner/partner gefügig zu machen für einen Vertragsabschluss, den dieser 'freiwillig' nicht will, aber den Vorstellungen des Angreifers möglichst entsprechen soll, und dies mit dem Siegel der Rechtmäßigkeit — ungewöhnlich und jenseits der Vorstellungen des BGB von den Umständen eines Vertragsabschlusses." (op. cit., Vorwort)
Dieser führende Arbeitsrechtler kommt auch zu der richtigen Erkenntnis:
"Wesensmerkmal des Arbeitskampfes ist die Ausübung von Druck auf den Gegner, um bei diesem ein bestimmtes Verhandlungsergebnis zu erreichen, zu dem dieser auf freiwilliger Basis nicht bereit ist. Dieser Druck wird bewirkt durch diejenigen Schäden, die dem Kampfgegner dadurch entstehen, dass er die vorenthaltene Arbeitskraft nicht unter Fortführung des Betriebs wirtschaftlich nutzen kann, dass er an der Weiterführung des Betriebs gehindert wird und ihm dadurch wirtschaftliche Nachteile zugefügt werden, so lange, bis er nachgibt ... Damit drängt sich zunächst der Gedanke auf an die Straftatbestände von Nötigung und Erpressung (§§ 240, 253 StGB), die es unter Strafe stellen, wenn mit Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel ein anderer zu einer Handlung genötigt wird (§ 240 StGB) und dadurch dem Vermögen des Genötigten Nachteil zufügt, um sich zu Unrecht zu bereichern (§ 253 StGB)." (op. cit., § 34, Randnummer 21).
Trotz dieser eindeutigen Rechtslage hat Otto Kissel als Vorsitzender des für das Arbeitskampfrecht zuständigen Ersten Senats des Bundesarbeitsgerichts den Streik als zulässiges Mittel des Arbeitskampfes bezeichnet. Er folgte darin dem Beschluß des Bundesarbeitsgerichts vom 28.01.1955 - GS 1/54 - (
BAGE 1, 291) und dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zur Aussperrung von 1991 (
BVerfGE 84, 212). Beide höchstrichterlichen Entscheidungen behaupten ein Streikrecht, obwohl jeder Streik ganz offensichtlich ein Verstoß gegen das Strafrecht, nämlich
§ 240 StGB (Nötigung) und
§ 253 StGB (Erpressung) ist. Überdies verletzt ein Streik die Grundrechte auf Vertragsfreiheit und Eigentum.
Trotzdem sind in Deutschland Streikende und Streikveranstalter vor Strafverfolgung geschützt. Kein Streikorganisator muss den § 253 (4) StGB fürchten, der lautet:
"In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung einer Erpressung verbunden hat." Die Gewerkschaften müssen keine Sorge haben, dass sie als Organisatoren kollektiver Erpressung nach
§ 129 StGB (Bildung krimineller Vereinigungen) vereinsrechtlich als kriminelle Vereinigungen gemäß
§ 3 Vereinsgesetz (Verbot) aufgelöst werden.
Die letzte Verurteilung von Streikenden als Erpresser erfolgte 1890 durch das Reichsgericht, siehe Urteil des Reichsgerichts vom 06.10.1890 (RGSt 21, 114), wo es heißt:
"Wird aber zum Zwecke der Erlangung günstiger Arbeitsbedingungen das Mittel der Nötigung angewendet, so gelangen beim Vorhandensein der sonstigen Tatbestandsmerkmale die Strafbestimmungen in § 240 oder § 253 StGB zur Anwendung, gleichviel ob diese Nötigung von den einzelnen oder von der Koalition und ihren Vertretern ausgeht. Entscheidend ist daher auch hier, ob es sich bei dem von Seiten der vereinigten Arbeiter behufs Erlangung günstiger Arbeitsbedingungen den Arbeitgebern gegenüber in das Werk gesetzten Vorgehen um ein Paktieren unter Wahrung der Vertragsfreiheit oder um die Übung eines Zwanges durch Drohung handelte. Ist letzteres der Fall, und steht dabei die Erlangung eines rechtswidrigen Vermögensvorteils in dem obenbezeichneten Sinne in Frage - und beides ist hier gegen die Angeklagten festgestellt - , so findet auch die Strafbestimmung in § 253 StGB Anwendung."Diese Zeiten sind lange vorbei. Heute wird es niemand wagen, die Gewerkschaften zu behelligen. Sie wissen die Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite, die überwiegend den Arbeitnehmerstatus hat. In einer Demokratie entscheidet die Mehrheit und die Justiz richtet sich offensichtlich nach deren Interessen. Der Schutz von Minderheiten gegen starke Kollektive ist im deutschen Rechtswesen oft nicht gewährleistet. Weitere Beispiele dafür sind der Kündigungsschutz von Arbeitnehmern, der das Grundrecht auf Vertragsfreiheit zu Lasten der Minorität der Arbeitgeber eklatant verletzt, oder die Steuerprogression, die der Minderheit der Besserverdienenden relativ mehr nimmt als der Mehrheit der Gutverdienenden.
Ein Streik schädigt nicht nur die Arbeitgeber, sondern unmittelbar einen weitaus größeren Personenkreis. Der wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat in seinem Gutachten
Tarifautonomie auf dem Prüfstand festgestellt:
"Die Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien beeinflussen in erheblichem Maße das Wohlergehen Dritter. Bei zu hohen Löhnen werden Menschen arbeitslos oder bleiben es. Diese verdienen dann nicht ein bisschen weniger, sondern im Prinzip gar nichts." Jeder erfolgreiche Streik erzwingt Löhne, die über dem Marktpreis der Arbeitskraft vieler Arbeitnehmer liegen, die zu diesen Bedingungen keine Arbeit mehr finden können. Streiks produzieren deshalb zwangsläufig Arbeitslosigkeit.
Die obigen Gutachter stellen dazu fest:
"Die Gewerkschaften als Arbeitnehmerorganisationen sind Kartelle zur Ausschaltung eines Lohnunterbietungswettbewerbs der Arbeitnehmer im Wettstreit um knappe Arbeitsplätze. Soweit sie den Wettbewerb von Außenseitern ausschalten können, sind die Gewerkschaften in der Lage, den Arbeitgebern Löhne abzunötigen, die über den markträumenden Löhnen liegen - mit der Folge, dass Arbeitslosigkeit entsteht oder fortdauert. Das Druckmittel dabei ist der Streik." Es ist aufschlußreich, dass in der deutschen Kartellgesetzgebung der Streik und die dadurch erzwungenen Tarifverträge nicht explizit verboten werden, obwohl sie gegen den Wettbewerbsgrundsatz einer Marktwirtschaft verstoßen.
Im hier zitierten Gutachten wird die antisoziale Rolle der Gewerkschaften und ihrer Streikwaffe nicht beschönigt:
"Die fortdauernde Massenarbeitslosigkeit berührt das Kartellinteresse von Gewerkschaften direkt nicht und die ständige Zunahme der Arbeitslosigkeit auch nicht, soweit die Zunahme nicht ein Maß erreicht, das zu viele Gewerkschaftsmitglieder ängstigt. Dies erklärt, warum weder eine hohe Arbeitslosigkeit noch das Hinzukommen weiterer Arbeitsloser Gewerkschaften davon abhalten, Löhne weiter zu steigern, die sie besser senken würden."Die Durchsetzung ihrer Forderungen wird den Gewerkschaften leicht gemacht, da die moderne Wirtschaft arbeitsteilig so eng miteinander verflochten ist, dass der streikbedingte Ausfall selbst kleinster Einheiten große Teile eines Wirtschaftszweiges und sogar der Gesamtwirtschaft lahm legen kann. Es gibt kein Machtgleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, die folglich diese fehlende Kampfparität zu ihrer Gunsten nutzen. Je interdependenter die Wirtschaft, desto größer das Erpressungspotential eines Streiks.
Ein Beispiel dafür ist der gegenwärtige Streik der
Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die mit gezielten Kurzstreiks eines kleinen Teils ihrer Mitglieder einen Großteil des Bahnnetzes blockieren kann und dabei am Arbeitskampf völlig unbeteiligte Bahnkunden als Geiseln nimmt. Während des letzten Streiks der GDL im Jahre 2007 hat sich die Deutsche Bahn (DB) noch gegen diese Erpressung gewehrt, siehe das Interview des für Personalangelegenheiten zuständigen Vorstandsmitglieds Margret Suckale:
Wir lassen uns mit Streiks nicht erpressen. Damals versuchte die DB den GDL-Streik durch eine möglichst große Zahl von Arbeitsgerichten verbieten zu lassen, indem sie sich auf die Verletzung der Tarifeinheit berief, nach der in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag zu gelten hat. Mit dieser Strategie hatte das Unternehmen durchaus Erfolg, siehe z. B. die Entscheidung des Arbeitsgerichts Nürnberg (13 Ga 65/07) vom 08.08.2007:
Beschluss Streik Lokführer.
Im vergangenen Jahr hat aber das Bundesarbeitsgericht den von ihm selbst postulierten Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben. Damit ist der Weg frei für die Spartengewerkschaften, die kleine, aber mächtige Berufsgruppen vertreten, zu Lasten der restlichen Unternehmensangehörigen privilegierende Tarifverträge für die eigenen Mitglieder zu erzwingen. Die folgenden Berufsgewerkschaften waren hierbei besonders erfolgreich:
- Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL)). Sie organisiert circa 25.000 der insgesamt 36.000 aktiven Lokführer und hat damit die Macht, im empfindlichen Transportsektor enorme volkswirtschaftliche Schäden anzurichten. Im gegenwärtigen Arbeitskampf haben 6 Privatbahnen und die DB mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) einen Branchentarifvertrag abgeschlossen, den die GDL aber nicht übernehmen will, weil sie annimmt, dass sie mit ihrer Streikmacht noch mehr Lohn für ihre Mitglieder erzwingen kann. Das Ziel der GDL ist ein eigenständiger Lokführertarifvertrag, der ihre Berufsgruppe auch innerhalb der Unternehmen privilegieren würde.
- Vereinigung Cockpit (VC). Im Jahre 1969 als Berufsverband der Piloten in privaten Luftfahrtsunternehmen gegründet, hat heute 8.200 Mitglieder. Konnte erstmals 2001 bei der Deutschen Lufthansa, und später bei Germanwings, Air Berlin und LTU Sondertarifverträge für die eigene Berufsgruppe durchsetzen, die die Piloten zu den bestbezahlten Arbeitnehmergruppen aufsteigen ließen. Der Pilot eines Verkehrsflugzeuges verdient heutzutage ein Vielfaches dessen, was die Bundeswehr einem ihrer Piloten bezahlt, der in bewaffneten Konflikten sogar sein Leben riskieren muss.
- Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF). Im Jahre 2004 hervorgegangen aus der Fusion zweier Berufsverbände. Zählt heute 3.500 Mitglieder, die jederzeit den Flugverkehr zum Erliegen bringen können. Gestützt auf diese Verhandlungsmacht schloss die GdF 2004 mit der Deutschen Flugsicherung einen Tarifvertrag ab, der die Flugsicherer außergewöhnlich gut stellt. Noch in unangenehmer Erinnerung ist der unangekündigte Streik der spanischen Fluglotsen im Dezember des letzten Jahres, der allein der Madrider Wirtschaft an einem Wochenende einen Schaden von 250 Millionen Euro zufügte und zehntausende Flugreisende für Tage auf den Flughäfen stranden ließ.
Das schlechte Beispiel der etablierten Spartengewerkschaften hat Nachahmer gefunden. In den vergangenen Jahren wurden viele Berufsgewerkschaften gegründet, zum Beispiel von den Beschäftigten auf Containerterminals oder den Angehörigen von Berufsfeuerwehren, die ebenfalls ihre Blockierungsmacht in klingende Münze umwandeln wollen. Es ist anzunehmen, dass sie unter den gegebenen politischen Verhältnissen damit Erfolg haben werden.