Freitag, 6. Mai 2011

Die Unersättlichen

David Ricardo bezeichnete die Staatsverschuldung als "eine der schrecklichsten Geißeln, die jemals zur Plage einer Nation erfunden wurden". Die Ricardianische Äquivalenz besagt, dass zwischen der Schuldenaufnahme des Staates und seiner Steuererhebung kein grundsätzlicher Unterschied besteht. Die politische Klasse sucht die Einnahmen des von ihr beherrschten Staates zu maximieren. Zuerst geschieht dies über die Eintreibung möglichst hoher Steuern. Doch hierbei sind den Machthabern Grenzen gesetzt, wie die folgende Grafik zeigt (Quelle: Arthur Laffer, The Laffer Curve: Past, Present, and Future):



Die obige Grafik verdeutlicht in idealtypischer Weise den Zusammenhang von Steuersatz und Steuereinnahmen. Wird ein geringer Steuersatz allmählich erhöht, steigen die Steuereinnahmen zuerst überproportional an, dann langsamer bis zu einem Maximalpunkt, danach sinken sie. Bei einem Steuersatz von 100% fallen keine Steuereinnahmen mehr an, weil jede Tätigkeit unterbleibt, die einer Besteuerung unterliegt, da niemand ein Interesse daran hat, vom Staat vollständig enteignet zu werden. In der Steuerpolitik sind deshalb langfristig nur Steuersätze knapp vor Erreichen des Aufkommensmaximums im Interesse der Herrscher.

Wo dieses Aufkommensmaximum liegt, bestimmt der Steuerwiderstand der Steuerpflichtigen, die einer Steuer ausweichen oder sie umgehen können. Die Steuerabwehr hat viele Ausdrucksformen:


  • Unternehmer können die Unternehmensform (Körperschafts- bzw. Einkommensteuer) oder den Unternehmensstandort (Unterschiede in der Gewerbesteuer) ändern, mögliche Mehrleistung unterlassen oder gezielt besonderen Aufwand treiben, z. B. bei der Werbung (Vermeidung von Spitzensätzen der Einkommensteuer).

  • Arbeitnehmer unterlassen Mehrarbeit, Ehepaare vermeiden Doppelverdienst (Vermeidung progressiver Einkommensbesteuerung), Haushalte schränken ihren Konsum ein oder verlagern ihn (Vermeidung exzessiver Verbrauchsbesteuerung z.B. von Kaffee, Tabakwaren, Benzin).

  • Steuerpflichtige entziehen sich durch Auswanderung oder Kapitalflucht vollständig dem hohen Steuerdruck ihres bisherigen Staates.


Keine politische Klasse gibt sich aber mit dem zufrieden, was sie über Steuern eintreiben kann. Sie wollen mehr und sie bekommen es durch die Aufnahme von Schulden. Sehen wir uns die Entwicklung des Bundeshaushalts im letzten Jahrzehnt an (Quelle: Bundesfinanzministerium, Eckwerte des Bundeshaushalts 2012 und des Finanzplans bis 2015):



Man sieht, dass die Finanzprobleme des Staates nicht auf unzureichende Einnahmen zurückzuführen sind. In den Jahren von 2005 bis 2008 hat der Bund enorme zusätzliche Steuereinnahmen erzielt. Im Jahre 2008 waren die Einnahmen um 58,6 Milliarden Euro höher als 2004, das ist eine Steigerung von 27,6% in 4 Jahren. Man hätte im Jahre 2008 einen ausgeglichenen Haushalt erreichen können, wenn die Ausgaben auf der Höhe des Vorjahres belassen worden wären. Es wäre 2008 sogar ein Überschuss von nahezu 10 Milliarden Euro möglich gewesen, wenn man sich mit den Ausgaben des Jahres 2006 begnügt hätte.

Aber das wäre von der politischen Klasse zu viel verlangt. Im Wettlauf von Einnahmen und Ausgaben siegen immer die Ausgaben. Gleichgültig wie günstig sich die Einnahmen entwickeln, den Nimmersatten reicht das niemals. Auch im vielbeklagten Krisenjahr 2009 waren die Staatseinnahmen noch um 45,9 Milliarden Euro höher als 2004, das entspricht einer Steigerung von 21,6%. Wer mit dieser Geldflut nicht zufrieden zu stellen ist, der kennt grundsätzlich in seiner Gier keine Grenze.

Die Politiker und ihr Apparat brauchen also zusätzlich zu den Steuern noch weitere Einnahmen aus der Aufnahme von Krediten. Die folgende Grafik zeigt die Nettokreditaufnahme des Bundes im vergangenen Jahrzehnt (Quelle: Bundesfinanzministerium, op. cit.):



Die Staatsschulden stiegen von 1.453,8 Mrd. Euro im Jahre 2004 auf 1.998,8 Mrd. Euro im Jahre 2010. Das ist eine Steigerung von 37,5%. Der Haushaltsplan des Bundes sieht für 2011 Ausgaben in Höhe von 305,8 Mrd. Euro und Einnahmen in Höhe von 257,4 Mrd. Euro vor. Das ergibt für dieses Jahr, das nach Aussagen der Politiker ein Boomjahr ist, ein Defizit von 48,4 Mrd. Euro, das damit um 14,2 Mrd. Euro höher liegt als das Defizit des Krisenjahres 2009. Das machen Politiker, die sich in ihren Gesetzen zu einer antizyklischen Finanzpolitik verpflichtet haben. Wenn man die vielen Nebenhaushalte des Staates und seine impliziten Schulden (Zahlungsversprechen, wie z. B. Pensionszusagen an Beamte) in die Betrachtung einbezieht, ist das Bild noch düsterer.

Aber in den nächsten Jahren soll alles besser werden, behauptet die Regierung in ihrer mittelfristigen Finanzplanung von 2012 bis 2015. Wird jemand so naiv sein, dieser politischen Klasse zu vertrauen, die in der Vergangenheit häufig die selbst gesetzten Regeln gebrochen hat? Die Maastrichtkriterien sehen vor, dass der staatliche Schuldenstand nicht mehr als 60%, die jährliche Nettoneuverschuldung nicht mehr als 3% des Bruttoinlandsprodukts ausmachen darf. Allein die letztere Regel wurde von den Euro-Staaten bis heute 46 mal gebrochen, ohne dass dafür eine einzige Strafe verhängt wurde.

Von den 27 EU-Staaten erfüllten 20 im letzten Jahr nicht die Maastrichtkriterien. Addiert man alle Staatshaushalte der Europäischen Union (EU-27), ergibt sich im Jahre 2009 ein Defizit von 6,8% des BIP und ein staatlicher Schuldenstand von 74% des BIP, für die Staaten der Euro-Zone (Euro-16) lauten die entsprechenden Zahlen 6,3% und 79% (Quelle: Wikipedia, Staatsverschuldung in entwickelten Ländern. Diese Verschuldungskrise hätte bereits zum Staatsbankrott der Euro-Länder Griechenland, Irland und Portugal geführt, wenn die EU-Staaten nicht in letzter Minute den Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) eingeführt hätten, der Notkredite für überschuldete Mitgliedstaaten vorsieht. Der ESM hat aber den kleinen Schönheitsfehler, dass er nur durch den Bruch der strengen Nichtbeistands-Klausel des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV oder AEU-Vertrag) zustande kam.

Aber, so heißt es beruhigend, wir haben als letzte Verteidigungslinie noch die Schuldenbremse, die im Mai 2009 in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Danach soll die strukturelle, also nicht konjunkturbedingte, Nettokreditaufnahme des Bundes nicht mehr als 0,35% des Bruttoinlandsproduktes betragen. Überschreitungen dieser Grenze sind bei Naturkatastrophen oder schweren Rezessionen gestattet, die ein sehr dehnbarer Begriff sind. Die deutsche Schuldenbremse nimmt gar nicht für sich in Anspruch, den Abbau der aufgenommenen Kredite anzustreben. Es soll lediglich die Höhe der Schuldenaufnahme begrenzt werden. Angesichts der zahlreichen Ausnahmeregelungen und der mangelnden Gesetzestreue der politischen Akteure ist es sehr zweifelhaft, ob dieses Minimalziel erreicht wird.

Auch wenn die Staatsschulden vollständig zurückgezahlt würden, wäre ihre Wirkung verheerend. Die Verbindlichkeiten des Staates sind unter dieser Voraussetzung in die Zukunft verschobene Steuererhöhungen, die von den nachfolgenden Generationen zu tragen sind. Das widerspricht der Generationengerechtigkeit. Eine ständig wachsende Staatsschuld zeigt, dass die heute Wahlberechtigten in der Fiskalpolitik ihr Wahlrecht so missbrauchen, dass die stimmrechtslosen Jüngeren gezwungen werden, den Konsum der Älteren über zukünftige Steuern zu finanzieren.

Die Schuldenaufnahme des Staates führt auch zu einem Verdrängungseffekt, da auf dem Kapitalmarkt die hohe Nachfrage des Staates nach Kapital die Kreditzinsen steigen lässt und sich damit die Finanzierungskosten der Unternehmen erhöhen. Für sie werden Kredite teurer, dadurch unterbleiben Investitionen, die Produktivität sinkt und das Wirtschaftswachstum geht zurück.

Die gegenwärtige Euro-Krise beweist, dass nicht mit einer vollständigen Rückzahlung der Staatsschulden zu rechnen ist. Die am höchsten verschuldeten Länder bekommen auf dem Kapitalmarkt neue Kredite nur noch zu unbezahlbar hohen Zinsen. In dieser Situation hat die noch junge Europäische Zentralbank bereits ihr angeblich ehernes Prinzip gebrochen, niemals Staatsanleihen von EU-Mitgliedstaaten zu kaufen. Der Artikel 123 des AEU-Vertrags verbietet die Finanzierung mitgliedstaatlicher Haushalte durch die EZB ebenso wie den direkten Erwerb staatlicher Schuldtitel. Dieses Verbot wurde umgangen, indem die EZB spanische, portugiesische und griechische Staatsanleihen nicht direkt von den jeweiligen Staaten kaufte, sondern mittelbar bei Banken, die für diese Schrottpapiere keine anderen Käufer finden konnten. Bisher hat die EZB Staatsanleihen in Höhe von 77 Mrd. Euro gekauft. Manchmal ist kein offener Rechtsbruch erforderlich, sondern es reicht die kreative Interpretation der bestehenden Gesetze.

Zusätzlich zur wundersamen Kreditvermehrung durch die geldschaffenden Zentralbanken haben die Staaten noch die Möglichkeit, einen Teil ihrer Schulden einfach nicht zurückzuzahlen. Diese Teilenteignung der Gläubiger, im Politjargon Haircut genannt, ist der Kern des in Entstehung befindlichen Insolvenzrechts für EU-Staaten. Der erste Haircut dieser Art soll demnächst den Gläubigern des griechischen Staates zuteil werden. Bei einem derartigen Haarschnitt verlieren die Eigentümer von Staatsanleihen in der Regel mindestens ein Drittel ihrer Forderungen.

Die politische Klasse hat in der von ihr durch jahrzehntelange Misswirtschaft verursachten Schuldenkrise drei Optionen:


  1. Sanierung des Haushalts, Rückzahlung aller Schulden, Vereinbarung und Einhaltung eines Verschuldungsverbots des Staates. Das wäre nur mit einer echten Austeritätspolitik zu erreichen, in der alle staatlichen Ausgaben drastisch gesenkt werden. Wie die Geschichte zeigt, ist eine derartige Sparpolitik in einer Demokratie mittel- und langfristig nicht durchsetzbar, ganz zu schweigen davon, dass die herrschenden Kreise nicht den geringsten Willen dazu haben.

  2. Umschuldungsverhandlungen des Staates mit seinen Gläubigern mit dem Ziel eines Haircuts, der vor allem die Banken treffen würde, denn sie sind bei weitem die größten Geldgeber der Regierungen. Ein größerer Forderungsausfall wäre von den Banken nicht zu verkraften. Die massenweise Enteignung der Eigentümer von Staatsanleihen verbietet sich also, wenn man den Zusammenbruch des internationalen Bankensystems vermeiden will.

  3. Der Staat kauft durch die Zentralbank seine eigenen Schuldtitel mit neu geschaffenem Geld. Das führt zwar zu Inflation und im Wiederholungsfall zu Hyperinflation, aber das ist ein schleichender Prozess, an den sich die Bürger nur anpassen können, gegen den es jedoch keine Widerstandsmöglichkeit gibt.


Wofür wird sich die politische Klasse entscheiden? Ihr Verhalten in der Vergangenheit, in der seit den 1950er Jahren kein Haushalt ohne Defizit war, lässt erwarten, dass sie auch in Zukunft nicht verantwortungsvoll mit dem Geld des Steuerzahlers umgehen wird. Alles spricht für die Wahl der 3. Option. "Inflation: Diese moderne Wirtschaftskrankheit ist zugleich eine der schwersten, und sie ist doppelt gefährlich, weil sie erst in einem fortgeschrittenen Stadium allgemein erkannt zu werden scheint." (Wilhelm Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft, 4, 144)

Keine Kommentare: